Früher als geplant, ich wollte eigentlich am Samstag ins Kino, ging ich nun heute mir den Film anschauen, der wie so viele andere sehenswerte Filme wieder nur in meinen geliebten kleinen Programmkino lief. Die Athmosphäre sollte also schon einmal stimmen, zumindest was das Kino an sich anging. Dort hat man seine Ruhe, es wird, meistens zumindest, nicht in den Film hinein geredet und man kann für ein paar Stunden in Ruhe in eine andere Welt eintauchen. Popcornwerfer gehen in die großen Kinos, da kann man weiter werfen, und so hatte ich auch hier nicht mit solcherlei Gestalten zu kämpfen. Tatsächlich sollten heute nur eine Hand voll Leute mit mir im Saal sitzen und diesen Film genießen. Der Rest sieht ihn wahrscheinlich am Wochenende. Die Zahl der Interessierten ist ja wahrscheinlich überschaubar.
Der Film selbst ist, wenn man ihn vergleichen würde, dass komplette Gegenteil von "Extrem laut und unglaublich nah.". "Tomboy" ist ruhig, "Tomboy ist leise und keinesfalls hektisch. Mit Text und Hintergrundmusik wird sparsam umgegangen. Hier zählen und wirken die Bilder. Der Zuschauer soll sich selbst einen Eindruck machen und wird sofort getäuscht oder zumindest im Unklaren gelassen, die ersten zwanzig Minuten. Zu Beginn ist nicht klar, für den jenigen, der sich nicht über den Film informiert hat, wen er vor sich hat. Erst die Badewannenszene enthüllt, der Hauptdarsteller ist eine Hauptdarstellerin, ein Mädchen. "Laure" heißt sie, gespielt von Zoé Héran.
Spoiler
Laures Familie ist umgezogen, an einen neuen Ort, wo sie keiner kennt. Nur ihre Eltern, die Mutter erwartet ein Kind und ihre kleine Schwester. Laure ist ein -Tomboy-, ein Mädchen, was sich wie ein Junge benimmt, am liebsten einer sein würde und das in einer Zeit, in der es überwiegend akzeptiert wird, wenn Mädchen Fußball spielen wollen und Jungs mit Plaste-Kochgeschirr (mir ist jetzt gerade nichts anderes eingefallen). Doch Laures Gefühlswelt, ein Junge sein zu wollen, geht darüber hinaus und so stellt sie sich den spielenden Kindern ihrer Wohngegend als Michael vor. Kurze Haare hat sie ja und auch das notwendige geschlechtsneutrale Aussehen, wie es genug Kinder ihres Alters noch haben. Und die Geschichte nimmt ihren Lauf. Sie spielt mit den Jungs Fußball, geht schwimmen und hilft mit einen kleinen Trick und Knete nach, um männlicher zu wirken. Dies gelingt ihr. Lisa, ein Mädchen aus der Nachbarschaft, ist fasziniert von Michael und verliebt sich in "ihn", der so anders ist als die anderen Jungen. Nur Laures kleine Schwester weiß, wer Michael wirklich ist und hält sogar vor den eigenen Eltern dicht. Denen fällt das jungenhafte Benehmen ihrer Ältesten zwar auf, aber was soll's? Man lebt schließlich in modernen Zeiten. Doch die bekommen Wind davon, welches Spiel ihre Tochter spielt oder den anderen Kindern vorspielt und beschließen einen Wendepunkt. Mit "Michael" muss Schluss sein.
Spoiler Ende
Französische Filme sind hierzulande immer noch unterrepräsentiert und dies völlig zu Unrecht, wie auch dieser Film beweist. Ein durchgehend ruhig wirkender Film, nicht textlastig und kaum Hintergrundmusik, dafür um so mehr mit Nahaufnahmen, weichen angenehmen Farben und intensiven Eindrücken. Mal etwas ganz anderes und dadurch begreiflich, wie im realen Leben. Das hat keine Hintergrundmusik, Straßenlärm, Autogeräusche oder das Knacken von Ästen und Gestrüpp sind zu hören. "Tomboy" zeigt, dass "weniger mehr ist".
Die schauspielenden Kinder sind allesamt Laiendarsteller und aus dem Freundeskreis von Zoé ausgesucht wurden. Dies und natürlich ihr Aussehen, aber auch schauspielerisches Talent, ihre Natürlichkeit, machen "Tomboy" zu einen zutiefst ehrlichen Film, wenn auch nicht unproblematisch. Denn natürlich gibt es Lücken und Fragen, die sich dem Zuschauer stellen. Würden Eltern im realen Leben so reagieren oder doch eher mit aller Macht versuchen, einen Kind, was allzu sehr aus der Geschlechterrolle ausbricht, in die Schranken zu weißen? Wie würden die anderen Kinder in Wirklichkeit reagieren, wenn sie erfahren würden, der "Junge" ist eigentlich ein Mädchen oder das Mädchen will am liebsten Junge sein? Doch hier lässt der Film ein halboffenes Ende. Im Film sind das die letzten Sommerferientage vor Schuljahresbeginn, denn in der Schule, das ist dann auch Laure klar, wird sie sich entgültig offenbaren müssen. So bleibt es der Fantasie des Zuschauers überlassen, wie es mit ihr weitergeht.
Die Erwachsenen, die Mutter und der Vater, sind nur in Nebenrollen zu sehen. Betrachtet wird die Welt aus Kinderaugen, Erwachsene als Randfiguren. Eine Beurteilung dieser ist deshalb schwierig. Leichter sind Bild und Ton zu beurteilen. Alles ist ruhig, nichts ist laut und doch entstand innerhalb weniger Monate ein Film, der Konzentration und Aufmerksamkeit erfordert. Wer die nicht bieten kann, sollte den Film nicht ansehen.
Jeder, der einen interessanten Film sehen möchte, hat mit "Tomboy" eine gute Wahl getroffen. Er ist das ruhige Gegenstück zu "Extrem laut...". Doch tiefe, teilweise gefühlsverwirrende, Eindrücke und Nachdenklichkeit bleiben auch hier beim Zuschauer.
Euer samuel.