Liebe Billy Elliot Fans!
London ist das Eldorado für Liebhaber von Musicals und Theateraufführungen. Nahezu hundert „theaters“ verschiedenen Genres locken täglich Tausende von Bewunderern aus aller Welt in diese Metropole. Ich habe vom 31.07. bis 02.08.“Billy Elliot“ zweimal anschauen dürfen (einmal mit Matthew Koon und einmal mit Colin Bates), zudem habe ich auch das Musical „Les Misérables“ von Voctor Hugo besucht. Letzteres steht hier nicht zur Diskussion, es hat mich aber ebenso begeistert wie „Billy Elliot“.
Ich reihe mich ein in den Chor all derer, die „Billy Elliot“ mit Lobeshymnen überschwemmen. Ich bewundere die vielen jungen begabten Menschen, die in unbändiger Freude das herrliche Bühnenstück dem Zuschauer meisterlich überbringen. Eine Riesenshow voller Fantasie, die grenzenlos begeistert und die Menschen zum Lachen und hoffentlich auch ein wenig zum Weinen bringt. Wohl jedem, der einmal dabei sein durfte.
Doch gerade weil dieses Musical so überall auf uneingeschränkte Bewunderung stösst, so möge mir der Leser es verzeihen, wenn mich das Stück trotz meiner ebenso empfundenen Bewunderung andererseits auch nachdenklich stimmt und in mir einige kritische Gedanken auslöst. Doch diese sollen niemandem die Freude am Musical trüben. Dies ist allein meine Meinung und ich achte die der andern ebenso.
„The gratest british musical I’ve ever seen“ steht unübersehbar in allen Strassen und U-Bahnen Londons. Zweifellos ist „Billy Elliot“ ein grosses Spektakel und ich habe auch meine wahre Freude daran gehabt. Trotzdem kann ich mich diesem Slogan nicht anschliessen. Zu ernst ist der Hintergrund zu diesem Musical, das nun - geht man vom Film „Billy Elliot“ aus – zu einem beträchtlichen Teil zur Klamaukschau abgesunken ist. Zu viele Menschen, die „anders fühlen“ als die grosse Masse, sind an deren spiessiger Untoleranz zerbrochen, als dass man darüber so leichtfüssig wandeln könnte. Der Film, resp. die Geschichte „Billy Elliot“, hat dieses Thema aufgebrochen und enttabuisiert, die Menschen sensibilisiert und so einiges in Bewegung gebracht und vielen darunter leidenden Menschen wieder zu Selbstachtung und Würde verholfen. Der Film hat dies ernsthaft und wahrhaftig getan. Die Metamorphose zum Musical scheint mir aber sehr gewagt und nicht durchwegs gelungen zu sein. Als Mission zur Toleranz gegenüber allen zu Unrecht verfemten Menschen ist der Film glaubwürdig, das Musical nicht. Das Musical muss Kompromisse eingehen um erfolgreich zu sein. Im Klamauk finden sich aber kaum Ansätze zum Nachdenken und zur Umkehr zu mehr Toleranz, dem eigentlichen Sinn der Geschichte „Billy Elliot“. So erschüttern einige Szenenvergleiche mit dem Film das Vertrauen und die Glaubwürdigkeit in das Musical erheblich:
Weihnachten ist im Film ein trauriges, wortloses und armseliges Fest, das die Elenden aber verbindet und den Frierenden neue Hoffnung schenkt. Im Film ist es ein unwürdiges Fastnachtsfest mit grenzenlosem Klamauk und Verspottung von Menschen, ein Fest ohne jeglichen Sinn und für viele nicht nachvollziehbar.
Die homophile Veranlagung Michaels wird im Film hochsensibel, rein und aufrichtig, ohne jeglichen lächerlichen Unterton und ehrlich abgehandelt, so dass Betroffene sich daran orientieren können und vielleicht den Mut finden, mit wieder gewonnenem Selbstvertrauen zu ihrer Veranlagung zu stehen. Im Musical wird das Thema weitgehend in einer sexistischen und lächerlichen Atmosphäre verspottet, die hilflosen Ansätze zu Toleranz gehen hier schmählich unter.
Die Musik von Elton John ist nicht über alles erhaben. Sie ist unausgewogen irgendwo zwischen super und mangelhaft und riecht etwas nach Schnellschuss. Teilweise ist sie aus meiner Sicht als Musiker sogar langweilig, so etwa das bekannt gewordene Lied „Electricity“ (Nur die Musik). Hätte er die Musik etwa auf dem Niveau seines bekannten Songs „Sorry Seems To Be …“ komponiert, dann könnte ich dem Musical auch in musikalischer Hinsicht besser zustimmen
Es gibt einige gute Darsteller, die sich im Musical neu definieren und nicht einfach ihre Filmkollegen kopieren. Leider gibt es dort aber auch schamlose Filmnachahmer, so allen voran die Ballettlehrerin (Sally Dexter). Sie hat den gleichen Tonfall, den gleichen Sprachrhythmus, sie raucht genau gleich, bewegt sich gleich und bedient sich gleicher Gesten. Und sie ist nicht die einzige, die sich des von Filmschauspielern erarbeiteten geistigen Eigentums bedient.
Wenn ich mich abschliessend noch über einen bestimmten Billy auslasse, so soll dies in der Absicht geschehen, dass ich nach so viel erteilter Kritik auch meiner tiefen Bewunderung für das herzerfrischende Musical Ausdruck verleihen möchte.
Eine Lanze brechen für Matthew Koon
Auf den ersten Blick tat Matthew mir wirklich Leid. Neben all diesen blonden und erfolgreichen Sunnyboy-Billys wirkte der Kleine mit seinem wie schwarze Schuhwichse glänzenden Haarschopf und seinen schüchternen asiatischen Gesichtszügen eher wie ein unauffälliger und kaum beachteter Aussenseiter. Auch in der Presse und in den Foren findet er kaum ein Echo. Darum lasst mich für ihn eine Lanze brechen!
Ich war natürlich zuerst etwas enttäuscht, als ausgerechnet der scheinbar unbedeutende Matthew auf der Actorliste meiner zuerst besuchten Aufführung stand. Kommt er mit all diesen blonden Winnertypkollegen überhaupt zurecht? Zudem kam mir Matthew auch noch so ziemlich als Winzling vor. Mit Recht, denn ich habe nach der Vorstellung bei der Stagedoor festgestellt, dass er neben dem heute gross gewachsenen und stets selbstsicher grinsenden Colin Bates gerade einen ganzen Kopf kleiner ist. Schon bei Vorstellungsbeginn musste ich ehrlich gesagt bald einmal feststellen, dass Matthew wohl kaum jemals weder ein Sänger noch ein grosser Schauspieler werden wird, und wahrscheinlich ebenso wenig ein filmreifer Playboy, wie vielleicht zum Teil die andern Billys es den Anschein machen mögen. Verblasst er da nicht völlig neben den vielbewunderten blauäugigen Stars? Nun, ich hab mich schon gefragt, wie das wohl rauskommen mag. Doch da dachte ich mir andererseits, die werden wohl auch einen Grund gehabt haben, gerade ihn aus hunderten von Jungen ausgewählt zu haben. Zudem gehört es doch zu Billys Rolle, mitten in dieser rauhen Männergesellschaft von streikenden Minenarbeitern eben gerade kein Winner, sondern ein sensibler und unsicherer Aussenseiter zu sein. So gesehen schöpfte ich mehr und mehr Hoffnung, dass er bestehen würde und gab mich weiter unvoreingenommen der Vorstellung hin.
Und kaum begann der Kleine einmal zu tanzen, da entrückte er verzaubert in eine andere Welt, und ich erkannte schnell seine wahre Begabung. Wie eine chinesische Lotusblume begann er sich von Schritt zu Schritt aus der Zerknüllung zu entfalten. Sein zierlicher Körper richtete sich immer mehr empor bis hin zur Schwerelosigkeit. Seine schlanken Arme und feingliedrigen Hände wurden zu Flügeln und er tanzte … und tanzte … und tanzte … . Er glitt so dynamisch dahin und seine forschen, aber kontrollierten Beschleunigungen, seine behutsamen Verzögerungen und sein sich vorsichtiges wieder Finden in gelassenster Ruhe erfolgten derart harmonisch und bis ins Kleinste beseelt und perfekt ausgestaltet, so dass der geneigte Kenner des Balletts sich aus dem Staunen nicht mehr zu lösen vermochte. Und dann diese Sprünge! Sie wurden wie von unsichtbarer Kraft gefeuert, aber mit einer luftigen Leichtigkeit und schlichter Eleganz, als käme der junge Tschingiskan von einem andern, fernen Planeten. Schliesslich dieser anachronistische Traum, in welchem das Kind mit seinem eigenen erwachsenen Ich verschmilzt, wohl ein fiktiver Blick in die verheissungsvolle Zukunft des angehenden Künstlers: Ein muskulöser und bestandener klassischer Ballettänzer, der Billys Lebensziel verkörperte, gesellte sich zur dieser kleinen und doch so erhabenen Gestalt. Zuerst erfolgte zu Tschaykovskis Schwanensee-Ballettmusik ein ruhiger hochsynchroner Introitus, beide „Männer“ für sich verspielt einen Stuhl zwirbelnd in der Hand. Mit zunehmender Heftigkeit der Musik entfachte sich aber dann ein leidenschaftlicher Paartanz mit genialen Schrittfolgen und wunderbaren Bewegungsbildern. Im Verlauf derer versank der kleine Tänzer alsdann in den starken Armen seines übergrossen Partners, um von ihm hoch geschwungen in luftigen Höhen wieder als die wahre Inkarnation Fonteyns und Nurejews aufzutauchen. Noch einmal erlebten wir hier oben den begnadeten und hochbegabten Jungen, der im Bühnenfirmament mit fantasievollen Ballettfiguren am Hochseil in Pirouetten schwebend symbolisch seiner Kindheit entschwand.
Dann kehrte er wieder zurück in die Realität, respektive auf den Boden der Bühne, wo er aus seiner Traumwelt erwachte und eher nur noch als laienhafter Schauspieler und „Sänger contre coeur“ den Rest der Show hinter sich brachte. Am Schluss klatschte, schrie und tobte die Menge im Zuschauerraum dem kleinen, verlegenen Buben zu und zollte ihm endlose „standing ovations“. Ich bin hier eher still geworden und habe aus gutem Grund mein Gesicht mit beiden Händen verdeckt.
Matthew ist allein fürs Tanzen geboren. Dort ist er einzigartig und genial, Mozart lässt ihn grüssen. Alles andere wird für ihn mit der Zeit an Bedeutung verlieren und er wird nur noch dieser, seiner Berufung folgen. Sein Unvermögen in den andern Bereichen während dieser ganzen Show spricht nur für ihn und macht ihn zum wahrhaftigen Billy Elliot. Ja - „Billy El-liot“ ist seine eigene Geschichte. Gott sei Dank, gerade ihn tanzen gesehen zu haben!
Zum Schluss noch einige Bilder. Die Bühnenaufnahmen von Matthew stammen aus dem Internet, die andern habe ich selber an der Stage door geschossen. Ich binzwar ein technischer Banause und weiss nicht ob die Bilder auch hier ankommen, allenfalls sende ich sie nach.
Ich grüsse euch alle
Christian.
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