So, wie angekündigt – und zumindest von Cole und timmy gut geheißen – eine
Buchvorstellung.
Die Insel in der Vogelstraße
von Uri Orlev
Ich hab hier eine Lizenzausgabe als Ravensburger Taschenbuch von 1998 (ISBN 3-473-58075-9). Die Originalausgabe erschien 1981 im Verlag Keter Publishing, Jerusalem.
Worum gehts?
Alex ist 11 Jahre jung und Jude. Er wohnt mit seinem Vater und seiner weißen Maus Blanka in einem jüdischen Getto. Wir schreiben das Jahr 1943.
Als die letzten Juden aus dem Getto (und mit ihnen Alex und sein Vater) von den Deutschen deportiert werden, gelingt Alex die Flucht. Sein Ziel: ein zerbombtes Haus in der Vogelstraße. Dort würde sein Vater – großes Versprechen – ihn abholen. Alex solle einfach in dieser Ruine bleiben, so lange es nur eben ging. Eine Woche, einen Monat, wenn nötig auch ein ganzes Jahr. Und Alex bleibt dort.
Bewaffnet mit einer Pistole und mit Defoes Robinson Crusoe entwickelt er sich zum Überlebenskünstler in einer ihm äußerst feindlichen Welt. Immer auf der Suche nach Nahrung, voller Angst vor den Deutschen aber auch vor plündernden Leidensgenossen, die polnische Seite im Blick. Und doch hat Alex auch Glücksmomente: Die Entdeckung einer Warmwasser-Dusche im Keller – und das im fast leeren jüdischen Getto.
Bleibt die Frage: Wird Alex von seinem Vater abgeholt?
Das Buch liest sich mit seinen 190 Seiten und Orlevs einfacher Schreibe flott durch. Orlev lässt den Leser ziemlich dicht an Alex ran. Die Gefühle, Ängste und Wünsche des Kindes werden ausführlich beschrieben, man fiebert mit Alex mit. Kein Wunder: Uri Orlev war selbst ein jüdisches Kind im Warschauer Getto.
Um dieses Buch zu lesen, benötigt ihr keinen besonderen geschichtlichen Background. Das Buch ist für Kinder und Jugendliche geschrieben – sie können durch die Lektüre dieses Buches die schreckliche Situation der Juden im Zweiten Weltkrieg ganz gut erahnen. Das Buch hat zahlreiche Preise eingeheimst.
So denne mal eine
Leseprobe:
Vorweg: Zwei Aufständische (Henrik und Freddy) sind in die Ruine geflüchtet. Alex ist ihnen zu Hilfe geeilt, und hat dabei einen deutschen Soldaten erschossen. Die beiden Erwachsenen sind von Alex und seiner Zuflucht beeindruckt.
»Wir müssen den Soldaten wegschaffen«, sagte Freddy. »Sie haben wohl noch nicht bemerkt, dass er hinter uns her in die Ruine gelaufen ist. Sie vermissen ihn noch gar nicht.«
»Ich helfe dir«, erbot ich mich.
Sobald wir unten waren, zog ich die Leiter hoch.
»Wer hat das Versteck gebaut?«
»Das habe ich alles allein gemacht. Ich wohne schon zwei Monate hier.«
»Glaub ich dir nicht.«
»Dann nicht.«
Ich konnte nicht hinsehen, als Freddy dem Soldaten die Uniform auszog. »Ich brauche sie«, sagte er entschuldigend.
Er packte die Uniform und den Stahlhelm zusammen und versteckte sie hinter einem Steinhaufen. Dann nahm er die Leiche bei den Füßen und fing an, sie wegzuschleifen. Ich wandte mich ab. Freddy steuerte mit seiner Last auf den Durchgang zum Nachbarhaus zu, wo er mich zum ersten Mal gesehen hatte. »Verwisch die Spuren«, befahl er.
Ich bedeckte die Blutlache und die Schleifspuren mit Steinen und Putzstücken, sodass alles aussah wie vorher.
»Was nun?«, fragte ich.
»Wir bringen ihn in eine der Wohnungen.«
»Aber ich wohne hier«, wandte ich ein. »Wir können hier nicht einfach einen toten Soldaten liegen lassen. Sie
werden es merken und herkommen.«
Freddy legte die Leiche auf den Boden und sagte:
»Ich gehe heute Nacht zu den Aufständischen, weil ich jetzt das Gewehr und Munition habe. Henrik muss bei dir bleiben. Seine Wunde ist nicht gefährlich – man muss nur die Kugel herausholen. Er kennt den Übergang in den polnischen Sektor. Vielleicht kann er die Adresse von unserem polnischen Verbindungsmann herausbekommen. Der wird euch helfen, in die Wälder zu gelangen. Du gehst mit ihm. Es hat keinen Sinn, dass du allein hier bleibst. Dein Versteck ist zwar ausgezeichnet, ich kann immer noch kaum glauben, dass du das alles selbst gebaut hast. Aber bald wird das Getto für die Polen freigegeben. Was wird dann aus dir? Du wirst dich nicht mehr rühren können. Du wirst hier kaum noch Luft holendürfen. Stell dir vor, jemand nistet sich hier in der Ruine ein. Sie haben doch dort drüben keine Wohnungen. Vielleicht bauen sie sich genau hier eine Hütte oder einen Schuppen!«
»Ich kann nicht von hier weg«, sagte ich.
Mir war jetzt völlig klar, dass ich hier bleiben musste. Ich konnte mich auch nicht den Aufständischen anschließen, obwohl ich das am Morgen noch fest vorgehabt hatte. Ich begriff, dass dieser Aufstand nichts mit Abenteuerromanen zu tun hatte, in denen die Kinder den Erwachsenen helfen und später als Helden gefeiert werden. Der tote Soldat, der vor uns auf dem Boden lag, war schon zu viel für mich. Ich beschloss, hier zu bleiben und abzuwarten..
»Aber warum?«
»Ich warte auf meinen Vater.«
»Weiß er, dass du hier bist?«
»Ja.«
»Wann kommt er?«
Ich zuckte die Schultern.
»Wo ist er?«
»Ich weiß nicht. Sie haben ihn an dem Tag mitgenommen, als unsere Fabrik stillgelegt wurde.«
»Welche?«
»Die Seilfabrik«, erwiderte ich.
Freddy wollte etwas sagen, schwieg dann aber.
»Wir reden später darüber«, sagte er nach einer kurzen Pause. Dann warf er mir einen seltsamen Blick zu und befahl: »Geh nach oben. Ich werfe ihn in die Grube im Hof und decke ihn zu, so gut ich kann. Schutt liegt ja genug herum.«
»Soll ich nicht am Haustor Wache stehen?«, fragte ich.
»Gut«, meinte er zögernd. »Aber du siehst sehr blass aus.«
»Ich fühle mich aber wie immer«, sagte ich erstaunt und betastete mein Gesicht.
Ich ging zum Haustor. Die Straße war leer. Ab und zu hörte man Schüsse und Explosionen in der Feme. Der Aufstand schien noch im Gange zu sein. Freddy war lange beschäftigt. Oder kam mir das nur so vor? Plötzlich war mir übel. Aber ich hatte keine Angst. Was war mit mir los? War ich krank?
Freddy war inzwischen fertig und rief, ich solle zurückkommen.
»Alles in Ordnung«, sagte er und klopfte mir auf die Schulter.
Wir gingen durch den Durchgang in die Ruine zurück. Ich zog am Kabel. Die Strickleiter schlängelte sich von dem Fußbodenvorsprung empor wie eine Schlange, die nach der Pfeife des Fakirs tanzt. Dann ließ ich das Kabel los. Die Leiter entrollte sich und fiel herunter.
»Dein Patent?«
Ich nickte.
»Ihr habt vorhin über einen Polen gesprochen, der Bolek heißt«, sagte ich. » Wie sieht er aus?«
»Komm, lass uns hinaufsteigen. Geht es dir wirklich gut?«
Irgendetwas stimmte natürlich doch nicht mit mir. Ich fühlte tief in mir ein Beben und Flattern, das immer stärker wurde. Wir kletterten hinauf und ich zog die Leiter ein. Dann beschrieb Freddy mir den Bolek, der dem polnischen Untergrund angehörte. Es war ganz eindeutig derselbe Bolek, den ich kennen gelernt hatte. Jetzt verstand ich auch, warum er so nett zu mir gewesen war. Ich sagte nichts. Aber ich wiederholte noch einmal im Geiste seine Adresse.
Plötzlich brach ich in Tränen aus. Ich konnte nicht mehr an mich halten, ich konnte nicht mehr aufhören, das Weinen überfiel mich von einem Augenblick zum anderen – es brach einfach aus mir heraus. Freddy umarmte mich und drückte mich ganz fest an sich. Er streichelte mir den Kopf. Vielleicht war ich wegen der aufgestauten Tränen so blass gewesen. Vielleicht hatte es deshalb so in mir gezittert. Ich konnte mich lange nicht beruhigen. Aber ich bemühte mich, so leise wie möglich zu weinen.
Das wärs erstmal.
Würde mich auf Reaktionen freuen (vielleicht kennt sogar jemand dieses Buch?)
Übrigens:
Das Buch wurde 1996 von Søren Kragh-Jacobsen (Dänemark) verfilmt. In der Rolle des Alex:
Jordan Kiziuk, der dafür prompt auf der Berlinale 1997 belohnt wurde. Den Film habe ich leider nicht gesehen.
Liebe Grüße
Renko
Edit 11/3: Bilder wieder off